"Gott schütze Rot-Weiss Essen!"

Im Mai 2010, das langjährige Dreiviertelstadion mit seiner über 50 Jahre alten Haupttribüne besteht nach vorgezogenem Spatenstich eines Komplettneubaus direkt daneben nur mehr aus einem Fünfachtel, berichtete die 11 Freunde über den "Stadionfluch" an der Hafenstraße – "bis dato noch die knarzende, aber funktionstüchtige Heimat eines Viertligisten (...), war die Spielstätte durch den operativen Eingriff der Politik nun endgültig dem Verfall anheimgefallen."

Der Verein ging in die Insolvenz und seine erste Mannschaft sogar in die fünfte Liga, aber die Hoffnung und die Bagger kehrten zurück: Dieser nun endgültig besiegelte Abschied vom alten Stadion fällt in eine Zeit, da sich der Verein ob der schwierigen sportlichen und finanziellen Situation gerade durch die überwältigende Initiative seiner Fans auf eine Tradition beruft, die noch stärker ist als zählbare Erfolge: „Schützenswertes Kulturgut seit 1907“. Mit dem abgeschlossenen Insolvenzverfahren, dem Aufstieg der jungen Mannschaft sowie dem baldigen Umzug in eine moderne Arena verbindet sich die Perspektive eines wirklichen Neuanfangs – wobei damit doch eigentlich eher ein Anknüpfen an die großen Erfolge der Vergangenheit gemeint ist.

Noch stehen Teile des greifbaren Symbols dieser erfolgreichen Vergangenheit, des „altehrwürdigen“ Georg-Melches-Stadions, dessen sichtbarer Verfall natürlich auch die derzeitige Lage unmissverständlich widerspiegelt. Es wird gute Gründe geben, warum sich die Verantwortlichen seit jeher gegen eine schrittweise Sanierung bzw. Rekonstruktion der alten Spielstätte entschieden haben (obwohl mit der klaffenden Lücke im Westen ja vor langer Zeit ein Anfang gemacht wurde), die nun eintretende Vorfreude angesichts arbeitender Kräne ist groß. Und doch handelt es sich hier um den Stadionbau eines Viertligisten, der zwangsläufig – nämlich der Situation angemessen – nicht an die ambitionierten baulichen Ansprüche der meisterlichen 1950er Jahre anknüpfen, bestenfalls aktuelle Anforderungen optimal erfüllen kann. Bei einem vollständigen Abbruch (oder euphemistisch: „Rückbau“) verschwände die materielle Symbolkraft des alten Stadions unwiederbringlich.

Während es sich bei Gegengeraden und Osttribüne ohnehin um eher profane Zweckbauten aus einer grauen Zeit des Vereins handelt, erinnern Haupttribüne und (wenngleich 1979 erneuertes) Flutlicht von 1956 an die ruhmreichen Tage – und dies rechtfertigt einen auch mit dem Umzug möglichen Erhalt! Beim damaligen (freilich nur im Ansatz erreichten) Vorbild in London, dem Highbury des FC Arsenal, erfolgte mit einem Neubau 2006 aufgrund der historischen Bedeutung ebenfalls der Denkmalerhalt einer Tribüne sowie die stadträumliche Einbindung (heute allerdings Luxuswohnungen). Lediglich die Freiflächenplanung im Essener Norden müsste an diesen Teilerhalt angepasst werden, dem Verlust einiger weniger Parkplätze (die mittelfristig im heterogenen Umfeld gewiss auch anderweitig geschaffen werden können), stehen zahlreiche Vorteile der Inwertsetzung als Denk- und Alleinstellungsmerkmal des Standortes Hafenstraße gegenüber:

  • Offensichtlich war und ist der Kostenaufwand einer Sanierung als Tribüne für 4000 Zuschauer sehr hoch, dies widerspricht jedoch eventuell nicht der weiteren pragmatischen Nutzung, gar Verpachtung (und erst mittelfristigen Ertüchtigung) der Warmräume für nachgeordnete aber alltagswichtige Zwecke (Gastronomie, Fan-Projekt, Shop, Ausstellung, Büro, Unterkünfte etc.).
  • Es entsteht eine beispielhafte Bereicherung (gerade auch touristisch) für Stadt und Region im Rahmen eines stärkeren Bewusstseins der kulturellen Bedeutung des Fußballs (Dt. Fußball Route NRW, Vereinsmuseen, Ansiedlung des DFB-Museums in Dortmund) sowie eine attraktive und einzigartige räumliche Fassung der Vorflächen der neuen Arena als begehbares Palimpsest und damit Gegenentwurf zu zahlreichen „gesichts- und geschichtslosen“ Stadionbauten.
  • Die noch vorhandenen drei Flutlichtmasten bleiben als weithin sichtbare Monumente erhalten und werden zu eindeutigen Treffpunkten, sie ermöglichen eine gleichsam atmosphärische wie sicherheitsrelevante Ausleuchtung jenseits des Innenraumes und rücken den Zuschauer ins Zentrum (mit der Option auf weitere Nebennutzungen des Parkplatzes, z.B. Feste, Märkte) – eine authentische städtebauliche Aufwertung in strukturschwachem Gebiet.
  • Die alte Haupttribüne dient an der neuen Zufahrt weiterhin als Anlaufstelle und Gedächtnis des Vereins, der Name „Georg-Melches-Stadion“ bleibt für eben dieses Bauwerk existent und damit auf ewig unveräußerlich (was wiederum das Namens-Sponsoring der neuen Spielstätte erleichtert). Die flexible funktionale Einbindung in den Komplex eröffnet die Möglichkeit, Anhänger und Interessierte ohne zeitlichen Druck kostensenkend an der notwendigen Sanierung zu beteiligen (Teilverkäufe, Eigenleistungen, Beschäftigungsprogramme der Stadt usw.), wodurch die Bedeutung als gewachsenes Identifikationsobjekt noch weiter gesteigert werden kann.

Wir sind uns sicher, dass entsprechender (politischer und wirtschaftlicher) Wille hier eine ebenso traditionsbewusste wie gerade auch zukunftsträchtige Lösung aus neu UND alt herbeiführen kann – für den Verein und die Stadt. Es wäre von planerischer Seite leicht erfüllbar, eine in sich konsistente Freiflächengestaltung (Parkplätze, Zufahrt) zu entwickeln, die (trotz des versetzten neuen Stadions) der Gesamtanlage einen einheitlichen Charakter gibt und die alte Tribüne mit den Flutlichtmasten zu einem nutzbaren Denkmal entwickelt. Es besteht die Chance, den „Standort Hafenstraße“ tatsächlich zu einem solchen zu machen, einem starken Ort, der sich von den mitunter austauschbaren Arenen jüngerer Zeit abhebt ohne dabei aktuelle Anforderungen an den Spielbetrieb zu missachten, einem Ort, an dem die Geschichte des Vereins erleb- und im wahrsten Sinne des Wortes greifbar – nicht wird, sondern viel mehr – bleibt, als gebauter Teil des schützenswerten Kulturgutes!

Nicht vorangetriebener Denkmalschutz und Erneuerungsfuror sind für den Moment in vielerlei Hinsicht nachvollziehbar, ökonomisch wie emotional. Sollte der erhoffte Erfolg in Zukunft jedoch ausbleiben, verpufft der Modernisierungscharakter und zurück bleibt eine unterklassige Mannschaft in einem ‚normalen’ Stadion. Tradition und Mythos werden sicherlich in erster Linie von den Menschen, den Fans getragen, doch brauchen diese Menschen Orte und Zeichen, über die sie sich untereinander und von Generation zu Generation verständigen und vergewissern können. Der Verlust der Zeichen einer großen Vergangenheit fällt nicht morgen negativ auf, wenn das neue Stadion feierlich eingeweiht wird – aber vielleicht übermorgen: wenn ältere Zuschauer von einer einst wegweisenden Spielstätte nur mehr erzählen können, während die bauliche wie sportliche Realität im Mittelmaß feststeckt.

Es lohnt sich allemal, diese Idee weiter auszuarbeiten, publik zu machen und so der meist erfolgreichen Essener Geschichte (Saalbau, Colosseum, Lichtburg, Zollverein u.a.) des Erhalts historischer Stätten (wenn denn realisiert!) bald ein weiteres wichtiges Kapitel hinzuzufügen. Dann wird in der Presse nicht nur vom traurigen Abriss der einst "modernsten Tribüne Deutschlands (GVE), Europas (WAZ) oder gar der Welt (DW)" die Rede sein, sondern vom bedeutungsvollen und vor allem schlagenden Herzen eines besonderen Vereins.